Macht.
Wahn. Vision.
Zwei Ausstellungen – Ein Katalog
Wir hatten einen
4-stündigen Rundgang durch die Heilbronner Museen gemacht: Von der Bild-Ikone Turmbau
zu Babel aus der Werkstatt Jan Brueghels d. J.
zu James Lee Byars Golden Tower,
einem Symbol für Reichtum, Macht und Potenz. Wir
sahen Ràul Ortega Ayalas Babel Fat Tower,
der im Lauf der Ausstellung durch die Wärme der Scheinwerfer schmelzen wird,
und wir bestaunten
Malachi Farrells Nothing stops a New Yorker, eine raumfüllende Installation
der New Yorker Skyline aus Holz, Pappe und Motoren.
Das letzte Werk unserer Tour: Werner Pokornys fünf
Meter hoher Turm I
aus
drei horizontal und vertikal aufeinander geschichteten Hausformen.
Anschließend, in der Cafeteria, sind wir uns einig: Wir sollten nochmals los
gehen, nochmals Werke ansehen. Nochmals Zusammenhänge prüfen, die uns
schon nicht mehr ganz sicher scheinen. Erneut Details entdecken, die wir noch
nicht bemerkt haben.
Die Arbeiten der fünfzig ausgestellten Künstler zum "Turm" bestechen
durch eine überraschende Vielfalt fantasievoller Ideen.
Wir haben nur gestaunt, was Dieter Brunner (Heilbronn) und Jutta Mattern (Arp
Museum) aus ihren Beständen und als Leihgaben hier zusammenstellen konnten.
Türme in unterschiedlichsten Formen und Funktionen umgeben uns seit
Jahrhunderten und können Stadtbilder und Landschaften prägen:
Kirchtürme, Wehr- und Wachtürme, Geschlechtertürme, Feuer- und Leuchttürme,
Fernsehtürme, Bankentürme und Wolkenkratzer.
Immer wieder geraten Türme ikonenhaft in unser Bewusstsein, sei es der biblische Turmbau zu
Babel, der Pariser Eiffelturm, der Schiefe Turm in Pisa oder die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Im
ewigen Wettlauf um das höchste Gebäude der Welt werden laufend neue Rekorde
aufgestellt. Es geht längst nicht mehr allein um deren Höhe, auch die
Optik, die architektonische und die künstlerische Gestaltung werden zu
wichtigen Merkmalen. Reine Zweckbauten will niemand mehr, der ästhetische Reiz
wurde zu einem bedeutsamen Wert-Kriterium.
Nicht alle Arbeiten sind in beiden Museen zu sehen. Thematisch getrennt wird
jedoch nicht, so dass man in beiden Ausstellungen das gesamte Spektrum der Skulpturen sehen
kann.
Ein Schwerpunkt im Arp Museum ist die Beziehung von Turm und menschlicher Figur,
ausgehend von Hans Arps Turm-Mensch.
In Heilbronn sahen wir aus dieser Gruppe etwa Leiko Ikemuras Hase-Frau, Uli
Günthers Michaela, und Jörg Immendorffs Ostturm + Westturm. Schwerpunkte hier sind
jedoch Facetten der Kleinskulptur ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und das
Ausloten konstruktiver Möglichkeiten.
Nach dem Besuch der Ausstellung greift man gerne und neugierig zum Katalog,
liest nach und sieht viele ergänzende Bilder zu allen Arten von Türmen und Bauwerken, weltweit.
Die Autoren sind Fachleute für verschiedene Aspekte, Kunsthistoriker, Architekten und Experten für zeitgenössische Kunst. Sie zeigen ihr Fachwissen.
Dem Leser bringt das interessante Verweise und Erkenntnisse, die ihm selbst
wohl verborgen waren.
Beginnt der Katalog mit einem Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung des
Turms, so endet er mit dem babylonischen Etemenanki, dem Tempelturm in Ur, Vorbild des
christlichen Motivs des "Turmbau zu Babel".
Dazwischen liegen Kapitel, die verschiedene Möglichkeiten und Perspektiven zur
detaillierten Annäherung beschreiben.
Im Rückblick auf die Geschichte des Turms erkennen wir Türme mit unterschiedlichsten Funktionen.
|
Hatten Wachtürme noch strategische Funktionen,
so boten mittelalterliche Kathedralen den Gläubigen einen Zugang zum
himmlischen Herrn und dienten zu seinem Lob. Im Lauf der Zeiten änderten sich
einige Funktionen.
Türme konnten allmählich zu spektakulären
Aussichtstürmen werden, in der heutigen Zeit auch zu Kunst-Skulpturen: Der
Pariser Eiffelturm, Gaudis Sagrada Familia in Barcelona oder etwa Frank O.
Gehrys Gehry Tower in Hannover.
In
beiden Ausstellungen wird der Einfluss skulpturhafter Bauweise auf die
Architektur erkennbar und die Beschäftigung von Bildhauern mit architektonischen
Elementen. Ähnlich wie schon Kinder gerne einen Turm aufbauen und dann wieder
umwerfen, zerlegen auch Künstler architektonische Formen, um sie verändert
zusammenzufügen.
" … In ihren Werken arbeiten die Bildhauer mit einer Vielzahl an
vertrauten Assoziationen, sie bedienen sich spielerisch und ironisierend des
architektonischen Formenkanons, sie zitieren repräsentative und anonyme
„Turm“-Architektur. Im Zentrum ihrer Objekte steht aber nicht das
architektonische Vokabular selbst, sondern die inhaltliche Verfremdung und das
Formulieren von Kommentaren aus der jeweils eigenen Zeit heraus. …"
(aus dem Pressetext)
Im Bilder-Gedächtnis bleiben vor allem haften: Tony Craggs Minster, Türme aus
gebrauchten Plastik- und Metallteilen, Abfallprodukten industrieller
Produktion oder
Şakir Gökçebağs Tower, der an Pisa erinnert,
aus Kleiderbügeln. Annette Streyls Fernsehturm Berlin II, aus Wolle
gestrickt, hängt wie ein schlaffer Strumpf über einer Querstange.
Timm Ulrichs San
Gimignano,
eine Installation umgedrehter Tische, deren Beine die
Geschlechtertürme symbolisieren. Thomas Virnichs Brainstorm, der Kölner Dom, der deformiert von der Wand
tropft,
ausgeglüht, wie nach einer Feuersbrunst.
Überraschend sind auch die Materialien, die eingesetzt,
die Gegenstände, die verwendet werden: Stahl, Eisen,
Glas, Leuchtstoffröhren, Acryl, Silikon, Draht, Holz, Karton, Gips, Pappmaché,
Kleiderbügel, gebrauchte Briefumschläge, getragene Kleidungsstücke, Koffer,
Tische, Wolle, Fett, Knochen und sogar Schokolade.
Sicher haben Sie längst gemerkt worauf meine kurzen thematischen Bruchstücke
abzielen, die Nennung einzelner Werke und die lange Liste der Materialien: Ich
möchte Sie neugierig machen, neugierig auf die Ausstellungen und den Katalog.
Gönnen Sie sich beides!
Gliederung:
Vorwort
1. Dieter Brunner: Macht. Wahn. Vision
2. Stefanie Lieb: Der Turm in der Architektur
3. Günter Baumann: Skulptur und Architektur
4. Dieter Brunner: Modell und Maßstab
5. Jutta Mattern: Im Reich der Türme – Von Türmen und Menschen in der Kunst
6. Birgit Möckel: Hoch hinaus – Der Turm und seine Tektonik
7. Günter Baumann: Inkunabeln der Weltarchitektur als Skulptur
8. Kirsten Voigt: Etemenanki - der Gründungsbau der pluralistischen Moderne
9. Impressum, Bildnachweis, Literaturliste, Autoren
Die präzise Sprache der
Autoren im Fachwortschatz und die entsprechenden Fremdwörter fordern vom
Leser einige
Aufmerksamkeit. Jeder Artikel geht von einem eigenen Aspekt aus. Dies führt
zu einer erstaunlichen Breite der Informationen und Blickwinkel,
leider aber auch zu etlichen
Überschneidungen: Künstler werden mehrfach genannt, Hinweise zu ihren
Werken ebenfalls. Deshalb habe ich Eines vermisst: Eine Erweiterung der
Künstlerliste um die zugehörigen Seitenzahlen, auch zu den jeweiligen
Werkbildern. So muss man mehrfach suchend blättern, vorwärts und rückwärts.
Eine umfassende Beschreibung künstlerischer Einflüsse auf die Architektur
und ein reicher Überblick über die bildhauerische Beschäftigung mit architektonischen Formen. Der Leser
kann mit Vergnügen eintauchen.
Eine Fotoserie
aus der Heilbronner Ausstellung konnte aus
presserechtlichen Gründen nur
während
der Laufzeit der Ausstellung gezeigt werden.
Text
+ Fotos: Eberhard Hauff 12/2013 |