"Man macht sich keinen Begriff von dem Hunger nach
Eindeutigkeit, der der höchste Affekt jedes Publikums ist. Eine Mitte, ein
Führer, eine Losung. Je eindeutiger, desto grösser ist der Aktionsradius einer
geistigen Manifestation, desto mehr Publikum strömt ihr zu. [...] Im Grunde hat
das Publikum bei jedem Autor nur ein Ohr für das, - für jene Botschaft, die er
auf seinem Sterbebette, mit brechendem Atem, noch Zeit und Kraft genug besässe
ihm zu sagen." (W.Benjamin: "Der Weg zum Erfolg in dreizehn
Thesen") Walter Benjamins lapidarer Hinweis auf die Einfalt des Publikums,
das er bekanntlich an anderer Stelle differenzierter als "zerstreuten
Examinator" bezeichnet, wirft heute die Frage nach der Rolle von Künstler,
Kunstwerk und Publikum in der postfordistischen Gesellschaft auf.
Lassen sie mich deshalb einige Bemerkungen zur Bedeutung der Ökonomie für die
Spielräume und Strukturen einer Bürgergesellschaft machen. In einem weiteren
Schritt will ich danach fragen, wie sich Kunst in diesem Kontext verortet und
entfallen kann. Abschließend will ich danach fragen, welcher ästhetischen
Herausforderung sich Kunst im europäischen und internationalen Rahmen zu
stellen hat.
In der entgrenzten und flexibilisierten demokratischen Gesellschaft des
Turbokapitalismus ist, so sieht es auf den ersten Blick aus, das Kunstwerk und
sein spiritus rector nicht mehr als eine bestenfalls überlesene Fußnote. Denn
Kunst kann sich nicht eindeutig verstehen und verstehen lassen. Sonst wird sie
zur Ramschware in Billigdiscountern.
[...]
Es wäre sicher töricht, [...] einer politischen Instrumentalisierung von Kunst das Wort zu reden. Kunst ist nicht Waffe, um ein
bekanntes Theorem des sozialistischen Realismus zu bemühen. Vor allem ist sie
es nicht, wenn sie es nicht zulässt. Kunst wird aber in ihren Bezügen, die sie
herstellt, doch wohl heute auch politisch sein dürfen oder als solche
verstanden werden dürfen.
Hier beginnen die Fragen an die "relations"-Projekte. Sie finden alle
in sogenannten postkommunistischen Ländern statt. Sie operieren alle mit mehr
oder weniger dezidierten Gegenbildern, Interventionen und Re-arrangements. Bei
allen weiteren Feststellungen bewegt man sich jedoch schon auf dünnem Eis.
Deshalb möchte ich ein paar Fragen stellen:
Überwiegen in Ihrem künstlerischen Selbstverständnis die politisch-historischen
Bezüge zu Ihrem eigenen oder einem bestimmten anderen Land? Welchen Stellenwert
hat für Sie das Publikum als Teil der Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft in
Ihrem Land, in Europa? Gibt es so etwas wie einen proeuropäischen Code in Ihrem
zeitgenössischen Schaffen? Wenn ja, an
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welchen europäischen Vorstellungen und
Werten machen sie das für sich fest? Die politisch, ökonomisch und medial unterstützten globalen
Uniformitäten - gerade auch in der Europäischen Union und seiner potentiellen
Teilhaber - bedürfen im Interesse einer Öffentlichkeit, einer
Bürgergesellschaft Ihrer freien Interventionen. Europa lebt von seiner
Diversität. Und die wird gerade nicht durch den europäischen Binnenmarkt oder
das sicherheitspolitische Paradigma von Schengen gesichert. Europa braucht eine
Agenda von Kultur und Bildung, um sich seiner selbst bewusst zu werden.
[...]
Kunst, die sich dem Öffentlichen stellt und stellen will, muss sich auf das
Publikum einlassen. Und dieses Publikum kann man vielleicht noch in Ansätzen
kalkulieren, aber vollständig berechnen und steuern kann man es nicht. Das
Publikum - darauf haben einige postmoderne Medientheoretiker oft genug
verwiesen - ist nicht so tumb, wie aufgeklärte Künstler und Journalisten oft
genug noch meinen. Gerade die soziologischen Untersuchungen von Rezipienten
bestimmter Kunstgenres haben gezeigt, dass sich das Publikum nicht selten als
kritischer, zuweilen auch als unkritischer Experte erweist, und damit eben auch
im Benjaminschen Sinne "Examinator" ist. Als besondere Form des
Publikums gehören da natürlich auch die Kunstvermittler dazu, die ihre Rolle
kapitalisiert haben und nicht selten sogar einen ansehnlichen Gewinn daraus
ziehen.
Für den Künstler zieht das keineswegs zwangsläufig ein postmodernes
"anything goes" nach sich frei nach dem Motto: Hauptsache ein
Publikum ist da, applaudiert, schimpft oder zahlt. Im Gegenteil:
Zeitgenössische Kunst in der "flexibilisierten Demokratie" muss
authentisch sein. Sie muss in ihrer Haltung, mit ihrer jeweiligen Diktion
interpretierbar und rezipierbar bleiben. Sie muss sich von der Realität
absetzen, neue Realitäten schaffen und intervenierende Gegenbilder schaffen.
So stellt sich schließlich durchaus auch eine politisch-ästhetische Frage. Wer
heute mit Gegenbildern, mit Interventionen, mit Einwürfen und Fragen arbeitet,
operiert quasi auch mit einer "Ästhetik des Widerstands". Peter
Weiss, dessen gleichnamiges großes Romanbuch diese Fragen an und in der
Geschichte des 20.Jahrhunderts entwickelt, und sozialgeschichtliche Fragen
aufwirft, die man sich heute aus vielerlei Gründen nicht mehr stellt oder
einfach vergisst, sie zu stellen, sollte vor diesem Hintergrund neu gelesen
werden. Er notiert noch vor seinem ersten Band: "Hier ist die Rede von
einer Ästhetik, die nicht nur künstlerische Kategorien umfassen will, sondern
versucht, die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen und politischen
Einsichten zu verbinden - Kämpfende Ästhetik."
Den vollständigen Text finden Sie hier
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