Kunst im öffentlichen Raum - Art in Public Space                                                                  Zurück

 


Prof. Marcel Meili

ETH Zürich/Basel

"
Unräume und Hyperskulpturen: Schweigen"

 


Zwölf Bemerkungen, eher zum öffentlichen Raum als zur Kunst

1 "Kunst"... "im"... "öffentlichen"... "Raum"...

Dass es Dutzende von Veranstaltungen gibt, welche sich unter den Formeln "Kunst im öffentlichen Raum" oder auch "Kunst am Bau" mit einer absolut nicht selbsterklärenden Gattungsfrage auseinandersetzen wirft zunächst die Frage auf, ob eigentlich ein Patient erkrankt ist oder allenfalls die Ärzte. Oder wäre ein Symposium zur "Kunst in Fahrzeugen" oder "Kunst in Museen" als Gattungsproblem vorstellbar?
Setzen wir dazu zwei Hypothesen an den Anfang:
1. Bildende Kunst hat heute im Raum, der sich "öffentlich" nennt, nichts zu suchen, im wörtlichen Sinn nicht, weil sie dort nicht finden wird, was sie als ihren Raum benötigt - mit Ausnahme des Denkmals und des Mahnmals.
2. Das, was als Kunst im Öffentlichen Raum dennoch erscheint, vermag dort seinen autonomen Status gegenüber der Architektur, der Dekoration, dem Marketing oder der Kommunikation kaum noch zu behaupten, es sei denn die Performance oder die Intervention.
Lassen wir mal die zwei Dutzend Gegenbeispiele weg, die Sie mir jetzt innerlich entgegenschleudern. Denn das leise Gefühl der Peinlichkeit, das einem regelmässig überfällt, wenn man ausnahmsweise über die Kunst im Freien nicht einfach hinwegsieht, ist mehr als eine Anekdote: Es betrügt nicht. Ich glaube, dass dies eine signifikante Grunderfahrung ist, die nichts mit der Qualität der Kunst zu tun hat. Woher kommt sie ? Im Museum kenne ich ein vergleichbares Gefühl nicht, selbst in einen Provinzmuseum nicht mit sogenannt mässiger Kunstsammlung. Ich nehme an, dass diese besondere Desavouierung von Kunst unmittelbar mit den heutigen Wahrnehmungsbedingungen im öffentlichen Raum zusammenhängt.


2 Re-Präsentation

"Kunst im öffentlichen Raum" hat aus der Geschichte eine ziemlich doppeldeutige Erblast übernommen, welche sie auch dann nicht einfach abstreifen kann, wenn sie will: jene der Repräsentation. Als es noch keine Symposien zum Thema gab, weil es diesbezüglich keine Unklarheiten gab, hat Kunst auf Plätzen, in Parks oder auf Friedhöfen in den meisten Fällen die Aristokratie, die Kirche, dann den Staat in irgendeiner Form repräsentiert. Was bleibt davon heute?

Wenn Sie jetzt sofort einwenden, dass diese Repräsentation heute gar keine Rolle mehr spiele, dann erlaube ich mir die Zwischenfrage: Warum erscheint die Kunst denn überhaupt noch in dieser Öffentlichkeit ? Wer Zweifel hat, dass die historischen Wurzeln der Repräsentation bis heute überlebt haben, dem empfehle ich einmal, im Internet die Konzepte zur öffentlichen Kunst der großen Städte runter zu laden. Die meisten dieser Papiere sind sorgfältig formuliert und auch durch illustere Beiräte, erlaborierte Thesenprogramme und Verfahren abgefedert.

Aber es bleibt ein gemeinsamer Grundton in den Argumenten: Die Stadt ist Herr des kollektiven Raumes, von ihr stammen die dramaturgischen Regeln und auch die konzeptionellen Rahmenziele für die öffentlichen Kunstprogramme. Natürlich sehen diese alle auch die Möglichkeiten von Performances, Installationen, Interventionen vor. Aber es bleibt klar, dass Kunst z.B. dem Ziel der Stärkung der betreffenden Stadt als bedeutender Kulturstandort oder der sog. "urbanen Identität" zu dienen haben. Das hat natürlich das Burgtheater auch, keine Frage. Nur ist dort die künstlerische und damit die mediale Frage ziemlich umfassend geklärt. Und auch jedes Museum hat einen Propagandaauftrag, aber nicht jedes Kunstwerk darin.

Aber sind diese Fragen auch bei der öffentlichen Skulptur geklärt? Ich bezweifle es. Die "Repräsentation" selbst ist dabei für das Kunstwerk gar kein Problem. Öffentliche Kunst lässt sich heute kaum noch als "Staatskunst" verunglimpfen, auch wenn sie Staat und Gesellschaft "irgendwie" zu repräsentieren hat. Ungeklärt ist vielmehr, wie die Kunst diese "Wirkung" erzielen möchte.

Anders gesagt: Der Begriff des "Öffentlichen Raumes" unterstellt in seiner Harmlosigkeit eine gefestigte Vorstellung davon, wie diese "Öffentlichkeit" beschaffen ist. Und somit spekuliert er auch über die künstlerischen Formen und Verfahren, in denen die Kunst dort wahrgenommen wird. Wie aber sollen wir uns diese öffentliche Wahrnehmung heute vorstellen ? Vielleicht eher Wahrnehmungen und Nicht-Wahrnehmungen, im Plural ? Vielleicht nur noch als interaktiver Prozess ? Oder als permanente ästhetische Rebellion ? Vielleicht alle fünf Jahre anders ? Nein, dass repräsentiert wird ist das kleinere Rätsel als: wie.

Und erlauben Sie mir dazu als Vorgriff einen kurzen Einschub: Wenn die Kunst sich den urbanen Raum tatsächlich als Spielfeld erhalten möchte, so tut sie meines Erachtens gut daran, sogar auf diesem "Repräsentationsauftrag" zu beharren. Er allein ist es, der als umkämpfte Formel die Kunst hier spezifisch macht und letzten Endes politisch unter Spannung setzt...

3 Beethoven in der Badeanstalt

Unsere Debatte hier entzündet sich also in Wirklichkeit mehr an Öffentlichkeit und Raum als an der Kunst selbst. Es stellt sich dabei weniger die Frage, ob die Kunst "gut genug" ist für den öffentlichen Raum, sondern ob der öffentliche Raum überhaupt noch in der Verfassung ist, diese Kunst nicht nur zu ertragen, sondern zu tragen.
Ich glaube, es ist zunächst notwendig, die Vorstellung davon, was "Verräumlichte Öffentlichkeit" ist, radikal zu entharmlosen. Wir brauchen eine schärfere Vorstellung davon, was sich in den Ritzen, Brüchen, Strassenzügen der Stadt, auf den Platz-Leichen oder vor Shoppingcenter-Eingängen als öffentliches Leben tatsächlich abspielt.

Aus der Sicht der Kunst ist es nicht unproduktiv zu unterstellen, dass sie sich, wenn sie sich hinaus begibt, gewissermassen in "Feindesland" begibt. Sie hat gute Chancen, den augenblicklichen Aggregatszustand der örtlichen Vorgänge zu missverstehen. Und noch grössere, jene zu verpassen, welche sich dort in fünf Jahren wuchernd ausgebreitet haben werden. Damit soll keineswegs unterstellt werden, dass die Künstler zu wenig mit dem realen Leben verkrallt seien. Und "feindlich" meint auch keineswegs, dass die Subjekte, auf welche das Werk stossen wird, kein Interesse an Kunst haben werden. Denn ein solches haben ja dank "soziokultureller Fusion" heute fast alle.
"Feindlich" meint, dass dasjenige, was die Kunst unter Umständen an "öffentlicher Wahrnehmung" voraussetzt, in Wirklichkeit ein unübersichtlicher, labiler und örtlicher Handlungs- und Kommunikationsdschungel ist. Er entfaltet die Augenblicke und Einstellungswinkel seiner ästhetischen Aufmerksamkeit auf die Umgebung so unberechenbar und mit so uneinheitlichen Mustern, dass unter der etwas ratlosen Formel des "Öffentlichen" mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum Kontakt zwischen Werk und Betrachter zu unterstellen ist, keine Wirkung also.

Nun wird man zu Recht einwenden, dass sich die Kunst schon seit dem Aktionismus oder Fluxus darauf eingestellt hat. Das ist sehr wahr. Wir werden aber gerade noch sehen, dass der Erfolg von "Beethoven in der Badeanstalt" oder "Nam June Paik at Harvard Square" zum Verständnis dessen, was die tückenreichen, verborgenen Eigenschaften des offenen Raum heute sind, noch einiges beitragen wird.

4 Surface, Occupation

Die Transformation von "Öffentlichkeit" bis zur Auflösung des Begriffes liesse sich soziologisch oder politisch herleiten. In unserem Zusammenhang haben wir es aber mit der Verräumlichung des "Common sense" zu tun. Deshalb ist es nicht uninteressant, den materiellen Zustand der Stadt und ihrer Räume wie einen Fibermesser für die Veränderung des Öffentlichen zu betrachten.

Für unsere Städteportraits im Studio Basel der ETH haben wir dazu zwei Untersuchungsbegriffe festgelegt, welche die Stadt weniger nach ihren architektonischen Qualitäten betrachten als vielmehr in einer Art von Ethnologie des gesellschaftlichen Gebrauches von Stadt. Die beiden Begriffe sind "occupation" und "surface". "Occupation" beschreibt die Beschlagnahmung der physischen Wirklichkeit ,Stadt', der Häuser, Strassen und Einrichtungen durch den realen Gebrauch. Unter "Surface" betrachten wir im weitesten Sinne den materiellen Zustand der Oberfläche, der Haut, des Bodens der Stadt.

Diese beiden Aspekte beschreiben als Gebärde und als Ausdruck dieser Gebärde jenes Muster, mit der sich eine städtische Kultur in ihrem Gemäuer einrichtet. Sie beschreiben die Stadt nicht aus der Sicht ihrer Planung, sondern als Plattform einer ständig in Transformation befindlichen "Anwendung von Stadt". Wir betrachten gewissermassen den Abdruck der urbanen kollektiven Psychologie. Das "Öffentliche" ist jener Teil des Abdruckes, in dem die Stadt als Kollektiv - oder als Kollektive - Spuren und Zeichen im materiellen Raum hinterlässt. Es ist also auch der Ort der Kunst. Und die Kunst ist beides gleichzeitig: sie ist wie ein Tätowierung in der Haut der Stadt, wo die Gemeinschaft ihr Innerstes als Zeichen preisgibt. Aber die Kunst ist auch "occupation", Beschlagnahmung des kollektiven Raumes durch den künstlerischen Gebrauch.

Um diesen sozialen und politischen Raum also geht es. Er ist die Verräumlichung dessen, was einst der ,Raum der Polis' war . Es lohnt sich also, ein paar Aspekte der Transformation des Öffentlichen anhand des veränderten Stadtraumes herauszugreifen, soweit sie in europäischen Städten allgemeineren Charakter haben. Es ist dies der Kunstraum der Gegenwart.

5 Isotopie

Eine der einschneidendsten Veränderungen der Stadträume ist ihr Hang zur Isotopie. Wenn wir die Stadt der Ecole de Beaux Arts, oder wem das lieber ist: auch jene der Charta von Athen nehmen, dann erzeugen beide Ordnung, indem sie Differenz herstellen. Fast alle transformatorischen Kräfte in der gegenwärtigen Stadt tendieren dagegen zu Isotopie. Dh. sie neigen dazu, potentiell die Gleichwertigkeit jedes Punktes herzustellen. Das gilt auch für das, was früher die "städtische Öffentlichkeit" gewesen ist.

Diese Entwicklung hat viele Konsequenzen, eine davon ist paradox. Die Grammatik des öffentlichen Gebrauchs von Stadt zerfällt in eine Vielzahl von unterschiedlichsten, quecksilbrigen und sozial segmentierten Gebrauchformen. Aber diese können jederzeit an jedem Ort auftreten. So gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt oder auch nicht, tendenziell an jedem Ort der Stadt ähnlich. Die Städte haben damit die Beschaulichkeit eines urbanen Vordergrundes, Mittelgrundes und Hintergrundes eingebüsst, die Kunst auch.

Die Städte reagieren nervös auf diese Frage. In fast jedem Stadtkonzept zur öffentlichen Kunst wird deswegen die "Ortsbezogenheit" verlangt. Nur: was ist an einem Platz heute spezifisch ausser seine Koordinaten ? Und wenn wir das Spezifische finden: ist es in drei Jahren immer noch so ? Natürlich können wir die Architektur eines Ortes als Stabilität beschreiben. Aber bedeutet der Platz noch, wozu er gedacht war oder was er im letzten halben Jahrhundert geworden ist, oder vor zehn Jahren? Und hat er noch diese Funktion? Ist nicht neulich die Strasse fünf Blocks weiter zum urbanen Spot geworden ? Und bleibt er das ?

In einer Gesellschaft, die in Lagerhallen Kino schaut, im Stadthaus Hotels einrichtet, in Bürotürmen der Fünfziger Jahre die wichtigsten Discos hat und im eigenen Büro wohnt oder ins Internet emigriert, da ist es schwer zu sagen, was wo mit wem wirklich passiert. Und es ist fast unmöglich geworden, Ereignisse vorauszusagen, auch für eine Kunst, die sich darum bemüht. Die räumliche Organisation des Öffentlichen ist zum Ölfilm geworden.

6 Tattoo im Asphalt

Eines der aufregendsten Phänomene einer Stadt ist

 


ihre Haut, ihre Oberfläche, insbesondere ihr Boden. Parallel zur isotopischen Transformation hat der Boden wichtige Eigenschaften als Bühne des städtischen Lebens eingebüsst, und andere dazugewonnen. Die Topographie unterschiedlicher Intensitäten und unterschiedlicher Pressionen hinterlässt Abdrücke im öffentlichen Raum. Die Summe verschiedenster Beanspruchungen als Folge der Auflösung des öffentlichen Zweckvertrages führt zu einer Art Überdeterminierung des Bodens: Er ist durch Zwecke, Funktionen, Ansprüche und Bedeutungen überladen. Bemerkenswerterweise wird der Stadtboden dadurch nicht unbestimmt. Er unterliegt im Gegenteil einer dauernden territorialen Klärung, Begradigung, Grenzbereinigung und figurativen Aufladung. Dieser Druck macht den Boden zum Medium, sozusagen zu einer kontinuierlichen, sensitiven Haut.

Wer das bezweifelt, möchte sich einmal ein Bild davon machen, was in Strassen oder Parks unterdessen alles festgeschraubt, aufgemalt, saniert, eingeklebt, abgegrenzt, zugeordnet, ausgezeichnet ist, um zu ahnen, wer was alles beansprucht. Diese überfrachtete, überreizte und grenzenlose Haut ist es, welche möglicherweise mehr als alle physischen Veränderungen sonst die Bedingungen für Kunst in diesem Raum verschoben hat.
Unbeschadet davon, welche Öffentlichkeitsform darin inszeniert wird raubt diese Aufladung dem städtischen Raum sehr vieles, was dessen traditionelle Kunstwerke unabdingbar benötigt hatten: Gelassenheit, Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit. Nun kann sich Kunst natürlich bewusst mit diesen neuen Eigenschaften auseinandersetzen, zweifellos. Aber zuallererst ist das Werk dann von der selben Redundanz bedroht wie die vierte Pendlerzeitungsbox, welche an der Tramstation gegen die drei bisherigen antritt. Und das ist keine Metapher: Es handelt sich um einen Wettkampf zwischen Medien, in einem ungewissen Vorführraum. Alle unsere Städte sind voll von Kunstwerken, auch neuen, die ebenso ratlos herumstehen wie halbleere Gratiszeitungsboxen.

7 Demarkationslinien

Städtischer Raum, seine Oberfläche ist also Massenmedium geworden, ungebärdig, hechelnd. Diese Screen hat, um in dieser Direktheit zu funktionieren, eine weitere Klärung zu Voraussetzung, die Schärfung der Demarkationslinie zwischen privatem und nichtprivatem Raum. "Nicht-Privat" heisst zunächst keineswegs "öffentlich", sondern "nicht unter privater Kontrolle". Eigentlich gibt es in der Stadt der Gegenwart keinen halböffentlichen Raum mehr, keine ungeklärten Zonen oder solche des Überganges. Der sogenannte öffentliche Raum ist jener, der nicht privat kontrolliert wird. Dieser Raum ist eigentlich sogar hyperöffentlich geworden und er ist extrem klar begrenzt. Aber selbst in diesem Raum spielt das Private eine tragende Rolle.

Das Feld, auf dem die Hoheit über diesen Raum umkämpft wird, ist die Ebene der Medien. In allen Bereichen der Gesellschaft haben sich ästhetische und andere Kommunikationsformen längst angeglichen, ihre Grenzen verwischen. Nirgendwo sonst aber verkeilen sich die verschiedenen medialen Stränge räumlich so klar und gnadenlos wie in der offenen Stadt. Wenn Kommunikation, Marketing oder Corporate Idendity auf den hyperöffentlichen Raum zugreifen entsteht im Grunde eine einfache Repräsentationskonkurrenz zwischen Staat und Privaten. Es geht dann nicht um private Kontrolle des Raums, sondern um private Besetzung des Öffentlichen mit Bedeutung. Ein wesentlicher Teil dieser Offensive hat ästhetischen Charakter.

Diese Entwicklung ist weder neu noch besonders überraschend. Bemerkenswert ist das Ausmass und das Tempo der Veränderung. Stellen Sie sich einmal die stadträumlichen Marketingrestriktionen der Fussball-WM 2006 in der Gesellschaft der 60er Jahre vor oder die Plastikkuh-Installationen der Ladenbesitzer der Innenstädte, deren unrühmlicher Ursprung in Zürich liegt. Natürlich, auch Kunst, viel Kunst ist nun zugelassen, aber der Kunstraum der Stadt befindet sich gewissermassen in einen Zustand hegemonialer Bedrohung. Das hat auch mit der Veränderung der städtischen Architekturen selbst zu tun.

8 "Lippenstift für den Gorilla"

Nun nähern wir uns doch noch der Architektur. Seit etwa zwanzig Jahren also sind Architektur und Bildende Kunst in neue Formen der Interaktion getreten. Nach wichtigen Experimenten bis in die 90er Jahre büsste die Entwicklung rasch ihren tastenden Charakter ein. Die Architektur ist ziemlich schnell zu einer ziemlich direkten Ausbeutung von Kunst als Quelle ihrer eigenen Extase übergegangen. Das hyperventilierende Gebäude selbst setzt nun das Kunstwerk einer ähnlichen Provokation aus wie der öffentliche Raum. "Lippenstift für den Gorilla" hat Norman Foster dies genannt.

Der Fall der Architektur ist aus der Sicht beider Disziplinen insofern doppeldeutig, als diese Spannung letztlich bis auf die Renaissance zurückgeht, als sich das Kunstwerk aus der Architektur heraus emanzipiert hat. Die Explosivität der Verbindung ist deswegen nicht überraschend, weil das Ineinanderschieben von Wahrnehmungs- und Produktionsfeldern offensichtlich nicht nur Erkenntnisse, sondern auch unerwartete Wirkungsmöglichkeiten freigesetzt hat. Das hat die Architektur schneller gemerkt als die Kunst. Aus der Sicht der Architektur blieb es deshalb keineswegs bei der Beschaulichkeit einer Wiederannäherung. Die architektonischen Experimente der Achtziger Jahre waren nur eine Vorbereitungsarbeit für einen nächsten Schritt, welcher die Stadt ebenso umformen sollte wie die Kunst.

9 Master and Servant

Diese Transformation war in dem Moment vollzogen, als sich die Architektur in der Stadt als anderes aber gleichberechtigtes, autonomes "Kunstwerk" im öffentlichen Raum hat etablieren können. Dieser Statuswechsel ist in Wirklichkeit eine ausgesprochen vielschichtige Operation. Aber paradoxerweise ist dieser aggressive Zugriff auf die Struktur des urbanen Raumes nicht nur Absicht der neuen städtische Architektur, sondern auch ihre Voraussetzung.

Traditionellerweise ist neben der Funktion die erste und übergeordnete Logik, der sich eine Architektur zu unterziehen hat, die Interpretation der sogenannten "Städtebaulichen Situation". Damit ist die Vorstellung verbunden, dass jede Stadt über eine eigenständige Syntax und Grammatik verfügt. Diese organisiert vor allem anderen den öffentlichen Raum und die öffentlichen Funktionen. In der letzten Dekade sind nun zahlreiche Projekte gezeichnet und auch gebaut worden, deren Beziehung zur bestehenden Stadt vielleicht noch am Rande mit diesen grammatikalischen Regeln zu tun hat. Ihre zwei zentralen Botschaften sind:

1. Ihr Formprinzip verweist in hohem Mass auf sich selber, beansprucht also Autonomie und
2. Sie organisiert in ihrem Inneren eine kontrollierte Suböffentlichkeit, welche klar vom öffentlichen Raum geschieden wird.

Warum ist dies für unsere Fragestellung von Belang ?

10 Hyperskulpturen und Nicht-Räume

Die Architekturen sind ein extrem präziser Indikator für den Wandel des Öffentlichen. Oder genauer gesagt: Diese neuen Häuser bringen zum Ausdruck, dass es "Öffentlichkeit" nicht mehr gibt, zumindest nicht in der Art, wie wir den Begriff kennen. Und die neuen Häuser arbeiten selbst an deren Abschaffung.

Gerade weil Architektur keine Kunst ist, sondern bereits in ihrem genetischen Code Gebrauchsformen, Kommunikationsformen, Repräsentationsformen und Kunstformen in sich selbst überlagert, ja verwischt, tritt sie in diesem neuen Aussenraum ausgesprochen erfolgreich auf. Mehr noch, sie ist begründender Teil von ihm. Architekturen werden zu Hyperskulpturen, ihre Bühne ist zwingend der Nicht-Raum oder der Unraum, der die Skulptur isoliert und freistellt. Das Schweigen dazwischen ist nicht die Schwäche, sondern die Voraussetzung ihrer Wirkung. Die logische Folge ist der Gegenzug: Künstler schaffen nun Architekturen als Skulpturen.

Was heisst das ? Es existieren zwar die physischen Räume noch, sie sind auch in technischen Sinne "öffentlich", aber es wird hart an der Auflösung der Bedeutung gearbeitet. Die Räume sind durch ein labiles Kräftespiel okkupiert, von allen möglichen Interessen, von Absichten, Zwecken, Initiativen, Bewegungen und Funktionen. Das ist der Grund warum sie unstet, uneinheitlich und mobil geworden sind. Boris Groys nennt diese Räume "uncertain spaces", und er sieht darin einen Grundwiderspruch zum Kunstverständnis des Westens, das den geklärten, sicheren Raum benötige. In gewissen Sinne sind viele dieser einstigen "public spaces" nun sogar  ausserordentlich politisch und vital geworden, andere "controlled areas" oder "closed communities". Dazwischen gibt's kaum noch was. Offene Stadträume sind heute im Grunde samt und sonders Plattformen für Stücke, die dauernd wechseln, welche passieren oder manipuliert werden, scheitern oder explodieren. Auf alle Fälle sind sie keine Orte mehr, in der sich eine "Polis" konstituiert oder repräsentiert, Politik ohne Polis sozusagen.

Darauf hat die Architektur reagiert. Ihre Auftraggeber wünschen sich Häuser mit einem grossen Auftritt auf diesem unsicheren, endlosen Raum ohne Eigenschaften. Und sie wünschen sich anstelle des unkontrollierbaren Platzes vor dem Haus die beherrschbare Innenbühne mit der Binnenöffentlichkeit des Hauses, welche vom Aussenraum geschieden ist. Diesem Profil verdanken diese Häuser ihre Entstehung. Das scharfe Auseinanderdriften zwischen kontrollierter und offener urbaner Sphäre dürfte zu einem der konstituierenden Merkmale der Stadt des 21. Jahrhunderts werden.

11 Nikis Michelin-Männchen

Was den Staat oder die Mäzene und die Kunst betrifft, so ist das Art Center natürlich der Prototyp dieses Programms, noch vor dem Hotel und dem Shopping Center. Umgekehrt unterliegt die Kunst der genau gleichen Dichotomie zwischen innen und aussen.

Die Tatsache, dass sich in den letzten zwanzig Jahren dennoch viele Interventionen, Performances und Aktionen in diesem wild gewordenen offenen Raum höchst erfolgreich Beachtung verschaffen konnten ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung, sondern eine Bestätigung. Die "uncertain spaces" , nun nicht mehr öffentlich, sondern politisch, sind Räume, in denen die Kunst agiert, sogar agitiert. Denn die Unsicherheit ist gerade die Besonderheit dieses Wirkungsraumes, etwa gegenüber dem Museum. Der Aktionscharakter der Kunst bringt aus der relativen Zufälligkeit und Unvorhergesehenheit öffentlichen Geschehens durch örtliche und zeitliche Eingrenzung jenen einen - letztlich "politischen" - Augenblick zum Tönen, welchen sie zu antizipieren und in Kunstform gewissermassen zur Eruption zu bringen vermag. Oder aber die Kunst kokettiert eben gerade damit, dass sie von andern medialen Ereignissen kaum noch zu unterscheiden ist.

Das Umgekehrte passiert dem wunderbar leichten Engel von Niki de St.Phalle in der Bahnhofhalle von Zürich. In den Achtziger Jahren wurde die alte Gleishalle als riesiger öffentlicher Platz freigelegt. Zwischenzeitlich dient er Weihnachtsmärkten, Modeschauen grosser Labels, PR-Ausstellungen oder Jubiläumsveranstaltungen von Banken. In diesen häufigen Momenten wirkt der Engel wie ein Werbe-Fesselballon des jeweiligen Veranstalters, eine Art gekapertes Michelin-Männchen von Dolce und Gabbana...

12 So what....?

Meine Anmerkungen waren lediglich Erwägungen eines Verdachtes. Sie bezogen sich im wesentlichen auf den Zustand des Öffentlichen, und dabei auch nur auf den offenen Raum der Stadt, was ja nicht aller kollektive Raum ist.

Es könnte sein, sagt der Verdacht, dass die meisten Kunstwerke, welche heute in diesem Raum aufgestellt, eingerichtet werden, sich auf einen Aggregatszustand sozialer Beziehungen, Kommunikationsformen oder Macht- und Kontrollverhältnisse berufen, sich kurzum auf eine "Öffentlichkeit" berufen, die sich längst als amöbenartiger Plural davongestohlen hat, ohne sich umzuschauen.

So what...?  Offensichtlich ist es dennoch möglich, aufregend in diesem Raum aufzutreten oder einzugreifen. Im übrigen wird der Verdacht eh folgenlos bleiben: In Zukunft wird noch wesentlich mehr Kunst im offenen Raum installiert werden als bisher.

Nur eine Frage lassen diese Erwägungen schliesslich doch noch offen, und diese Frage ist absolut nicht rhetorisch gemeint: "Warum, aus welchem Grund eigentlich, sollen wir in diesem eigenartig gewordenen Raum überhaupt Kunst einrichten ?"

Textübernahme mit freundlicher Erlaubnis von
Prof. Marcel Meili
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